Aus der Einleitung

 
Buch

Ralf Weber
Das Heuerlingswesen im Oldenburger Münsterland im 19. Jahrhundert

(Veröffentlichungen des Museums im Zeughaus, Stadt Vechta, Band 7)
178 Seiten, Gb., 15,00 Euro
ISBN 978-3-89728-080-9
VERGRIFFEN!

  

Dieser Titel ist vergriffen!

Geleitwort

[Als PDF herunterladen]

Das Heuerlingswesen war ein in weiten Teilen Nordwestdeutschlands verbreitetes Phänomen der ländlichen Gesellschaft. Auch im »Oldenburger Münsterland«, den bis zur Säkularisation von 1803 zum Fürstbistum Münster, seitdem zum Herzogtum Oldenburg gehörigen Ämtern Vechta und Cloppenburg, war es stark ausgeprägt. Die Eigenart dieser als Heuerlinge bezeichneten unterbäuerlichen Schicht bestand darin, dass sie kein Land und keine Wohn- und Stallgebäude als Eigentum besaßen, sondern diese als kleine Landflächen und meist äußerst bescheidene Häuser von Bauernhöfen in Pacht nahmen. Auf diesen Flächen konnten die Heuerlinge selbstständig wirtschaften, mussten aber als Gegenleistung mit ihrer Familie dem Bauern in dessen Land- und Hauswirtschaft als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Dabei war der Umfang dieser Arbeitsleistung oftmals unbemessen.

Waren die bisherigen Veröffentlichungen zum Heuerlingswesen im Oldenburger Münsterland zumeist lokal und kleinräumlich beschränkt, so behebt die vorliegende, auf den genannten Gesamtraum bezogene Untersuchung Ralf Webers diesen Mangel. In der gegenwärtigen Situation der deutschen Geschichtswissenschaft, in der die Wirtschafts- und Sozialgeschichte nach manchen »Wenden« (z. B. »spatial turn«; »iconic turn«; »cultural turn«) nicht mehr – wie etwa zu Zeiten der Historischen Sozialwissenschaft – eine unangefochtene Leitdisziplin darstellt, war es ein mutiger Schritt des Verfassers, sich auf ein sozusagen »klassisches« Thema der Bevölkerungs- und Unterschichtenforschung einzulassen.

Sein Untersuchungsgegenstand hat vor allem die Bedeutung eines Exempels für die im 19. Jahrhundert sich herausbildende staatliche Sozialpolitik. Die oldenburgische Regierung hat damals zunächst punktuell, dann systematisch Anläufe unternommen, die Lage der Heuerlinge als ein Teilphänomen ländlicher Massenarmut zu erkunden und daraus Verbesserungsmaßnahmen herzuleiten. Die dabei entstandenen umfangreichen Archivquellen im Staatsarchiv Oldenburg, deren Schwergewicht in den 1840er Jahren liegt und die bis dahin zu großen Teilen noch nicht ausgewertet waren, bilden die wichtigste Grundlage der Untersuchung. Um den Entwicklungsbogen möglichst weit zu spannen, hat der Verfasser sich auch des diachronen Vergleichs vom frühen bis zum späten 19. Jahrhundert bedient. Dabei erwies sich die vom »Verein für Socialpolitik« herausgegebene Untersuchung über »Die Verhältnisse der Landarbeiter in Nordwestdeutschland« (1892), die bei der Erforschung des Heuerlingswesens bisher kaum beachtet worden war, als besonders ergiebig. Auf diesem Quellenfundament sind die Eigentümlichkeiten des Heuerlingswesens in »mikrohistorischer« Eindringlichkeit herausgearbeitet.

Die Abnahme der Hollandgängerei als spezifischer Form der Wanderarbeit in Nordwestdeutschland, der Niedergang der textilen Heimarbeit und die Markenteilungen waren wesentliche Gründe für die Verschlechterung der Lage der Heuerlinge. Die Heuerlingsfrage stellte sich als spezifische »soziale Frage« der ländlichen Gesellschaft dar. Demgemäß ordnet Weber die bedrängte Lage der Heuerlinge zutreffend als Variante der vorindustriellen Massenarmut ein, die unter dem Begriff des »Pauperismus« erörtert wurde. Dem rapiden Bevölkerungswachstum stand in der Agrargesellschaft keine entsprechende Zunahme an Erwerbsquellen gegenüber. Folglich klaffte die Schere zwischen Nachfrage nach und Angebot von Arbeit immer weiter auseinander. Eine langfristige Entspannung für die vielfach in proletaroiden Verhältnissen lebenden Heuerlinge brachte erst die seit den 1830er Jahren massiv einsetzende Auswanderung (vor allem in die USA). Dadurch wuchs auch der »Marktwert« der zurückbleibenden Heuerlinge, die nun bezüglich Wohnung, Ackerfläche, Pacht und »Helfen« beim bäuerlichen Heuerherrn bessere Bedingungen aushandeln konnten. Eine weitere Ausdünnung der Heuerlingsschicht und damit eine Entspannung des Problemdrucks ergab sich durch Abwanderung in deutsche Ballungsgebiete der Industrialisierung. Dieser Prozess hat sich gut 100 Jahre hingezogen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als einerseits der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft in der Landwirtschaft durch deren zunehmenden Maschineneinsatz schrumpfte und andererseits die Wiederaufbau- und »Wirtschaftswunder«-Zeit in der frühen Bundesrepublik eine Fülle an Arbeitsplätzen in Industrie, Handwerk und Dienstleistungssektor bot, ist das Heuerlingswesen ganz verschwunden.

Ein viele Jahrhunderte bestehendes Teilsystem der Landwirtschaft, das auch für die soziale und mentale Verfassung der ländlichen Gesellschaft prägend war, hatte der »Modernisierung« weichen müssen. Dabei ist nicht zu vergessen, dass dieser Vorgang von den Heuerlingen durchweg als Befreiung aus einem vielfach drückenden Abhängigkeitsverhältnis empfunden wurde.

Ralf Webers gründliche Untersuchung bietet über ihre regional bedeutsamen Ergebnisse hinaus zugleich einen Baustein für vergleichende Studien zum Heuerlingswesen in anderen Gegenden. Zu Recht wurde die Untersuchung, die als Magisterarbeit im Fach Geschichte an der Universität Vechta angefertigt wurde, wegen ihrer besonderen regionalen Bedeutung mit dem Förderpreis der Universitätsgesellschaft Vechta ausgezeichnet (2012); darüber hinaus erhielt sie einen Wissenschaftspreis der OLB-Stiftung der Oldenburgischen Landesbank (ebenfalls 2012).

Vechta, im August 2014
Prof. em. Dr. Alwin Hanschmidt

 
-->nächste Seite
 
Letzte Änderung: 19.04.2021 · webmaster